Weltliche Lieder

Vorwort zu Band 1

Das weltliche Liedschaffen lässt sich in fünf Phasen einteilen, die sich vor allem durch die Sujets der Gedichte unterscheiden. Die Auswahl – häufig paarweise angelegt – legt den Schluss nahe, dass sich Martha von Castelberg bevorzugt mit Lyrik beschäftigte, zu der sie einen biografischen Bezug hatte und deren Vertonung nicht zuletzt auch der Verarbeitung persönlicher Empfindungen diente. Mit einigen Dichtern war sie privat bekannt (Pater Maurus Carnot, Carli Fry), bei anderen handelt es sich um Klassiker der Weltliteratur wie Hermann Hesse, Friedrich Rückert, Theodor Fontane, Theodor Storm und Juan Ramón Jiménez (Literatur-Nobelpreisträger 1956). Auf die Gedichttexte wurde sie teilweise durch Zeitungslektüre aufmerksam. Im Nachlass finden sich Ausschnitte aus der «Neuen Zürcher Zeitung» und anderen, auch deutschen Zeitungen mit Abdrucken von Gedichten, beispielsweise von Wandern (1934) und Du bist ein Schatten am Tage (1966).

In ihrem eigenhändigen Werkverzeichnis nennt die Komponistin als erstes Werk überhaupt ein Lied, nämlich Heimweh. Sie vermerkt, dass sie es im Alter von 17 Jahren, also 1909, komponiert habe. Leider ist das entsprechende Notenmaterial verschollen. Es entstand zu einer Zeit, als Sprachaufenthalte sie nach England und Belgien führten. Die beiden frühesten überlieferten Lieder schuf sie 1912 und 1916 noch unter dem Mädchenamen von Orelli. Es handelt sich um Alpen-Enziane und Die wilde Biene nach Gedichten von Pater Maurus Carnot. Beide Gedichte verbinden naive und lebensfrohe Naturlyrik mit subtiler Liebes- und Freiheitsmetaphorik. Entsprechend unbeschwert und heiter fallen die Vertonungen aus. Sie stammen aus einer Zeit regelmässiger Kuraufenthalte in St. Moritz Bad und später in Disentis.

Das nächste Liederpaar fällt in die ersten Ehejahre mit Victor von Castelberg, den sie 1919 in Disentis kennenlernte und 1920 heiratete. Es sind Liebeslieder von inniger Intimität auf Gedichte von Hermann Hesse (Bitte) und Ludwig Finckh (Tröstung). Das im Jahr 1920 komponierte Bitte thematisiert die schüchterne Annäherung und könnte als musikalisches Liebesgeständnis gedient haben. Tröstung, sechs Jahre später entstanden, zeugt von einer Beziehung, die von grosser Sensibilität geprägt ist. In beiden Fällen wird hier damals neueste Literatur vertont.

In den 1930er Jahren komponierte Martha von Castelberg drei Lieder, mit denen sie auf unterschiedliche Weise an die beiden vorherigen Phasen anknüpfte. Mit den 1932 entstandenen Liedern auf die populären Gedichte in rätoromanischer Sprache Il pur suveran von Gion Antoni Huonder und Allas steilas von Alfons Tuor zeigte sie ihre Verbundenheit mit der Herkunftsregion ihres Mannes, die für sie eine zweite Heimat geworden war. Wandern, nach einem Gedicht von Jacob Hess, schlägt den Bogen zu den Naturgedicht-Vertonungen ihrer Jugendzeit und vermittelt eine gelöste und unbeschwerte Atmosphäre.

Anlass für die Entstehung der Lieder zwischen 1950 und 1960 gaben vermutlich persönliche Freundschaften. 1950 vertonte sie Canzun de tgina des surselvischen Dichters Carli Fry, der im Jahr zuvor für seine Verdienste um die rätoromanische Sprache und Literatur die Ehrendoktorwürde erhalten hatte. Eine Bekanntschaft verband sie offenbar auch mit dem Dichter Reinhold Schneider, da sie von ihm noch unveröffentlichte Lyrik besass. Mehrere Vertonungen seiner Gedichte sind nur als Entwurf beziehungsweise fragmentarisch erhalten (Ich schlief zu Deinen Füssen, Im Nebel, Liebe Dunkelheit). Möglicherweise kam sie durch Reinhold Schneider in Kontakt mit Werner Bergengruen, dessen hintersinniges Trinklied Gegen die Traurigkeit im Werk eine solitäre Position einnimmt. Zum 70. Geburtstag ihres engen Freundes, des Tenors Peter Willi, vertonte Martha von Castelberg In der Dämmerung von Heinrich Pestalozzi (1878–1940).

Das Spätwerk der 1960er Jahre ist geprägt von einem melancholischen bis resignativen Ton. Als Textvorlagen wählte sie Gedichte von Weltrang. Neben dem Kindertotenlied Du bist ein Schatten am Tage von Friedrich Rückert und dem psychologisierenden Ich entblättere dich von Juan Ramón Jiménez sind dies O trübe diese Tage nicht von Theodor Fontane und Die Nachtigall von Theodor Storm. Mit den beiden letztgenannten Liedern beschliesst Martha von Castelberg den Werkkreis. Sie greift, wie im Frühwerk, auf Naturmetaphorik zurück, besingt nun aber den Nachsommer und Herbst des Lebens.

Knud Breyer (Berlin), im August 2021

Knud Breyer studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Neuere Deutsche Philologie an der Technischen Universität Berlin und promovierte dort mit einer Arbeit über das späte Klavierwerk von Johannes Brahms. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hanns Eisler Gesamtausgabe (Akademie der Künste, Berlin) und der Max Reger Werkausgabe (Max-Reger-Institut/Elsa-Reger- Stiftung, Karlsruhe). Zudem war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Erich Schmid Edition an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) beschäftigt. Daneben ist er freiberuflich als Editor und Autor für verschiedene Verlage tätig.

Gastbeitrag von Renzo Caduff: Vertonungen surselvischer Gedichte

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