Motetten

Vorwort zu Band 4

Die Motette für vierstimmigen gemischten Chor a cappella nimmt mit 18 Werken eine herausragende Stellung im Schaffen Martha von Castelbergs ein. Ihre Motetten sind sämtlich dem «Cäcilianismus» verpflichtet, jener restaurativen Kirchenmusikbewegung, die sich der Wiederbelebung der klassischen Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts verschrieben hatte. Gleichwohl bildet Martha von Castelberg einen eigenen, moderneren Stil aus, der harmonisch reicher und kontrapunktisch freier ist. Von einigen der Motetten fertigte sie auch eigenständige Fassungen für Blechbläser an.

Die Wiederentdeckung der Renaissance-Motette und die Idealisierung des päpstlichen Kapellmeisters Pierluigi da Palestrina (1525–1594) zum Schöpfer der «wahre[n] [Kirchen] Musik» erfolgte bereits in der Romantik, aber erst durch den Cäcilianismus bekam sie auch eine kirchliche institutionelle Grundlage. Die Idee des Cäcilianismus verbreitete sich nach der Begründung 1868 durch den Bamberger Theologen Franz Xaver Witt über sogenannte «Cäcilien-Vereine» sehr erfolgreich im gesamten deutschsprachigen katholischen Raum. Mit Abbé Joseph Bovet, einem der Schweizer Protagonisten, war Martha von Castelberg persönlich bekannt. Da es sich beim Cäcilianismus in erster Linie um eine Laienmusikbewegung handelte, kam der Gründung und Ausbildung von Chören eine zentrale Rolle zu. Folglich entstand entsprechende Lehrliteratur, wie beispielsweise Franz Wüllners Chorübungen der Münchner Musikschule 2 in drei Bänden, deren dritter Teil aus einer Sammlung historischer Chorsätze besteht.

Auch Martha von Castelberg rezipierte Wüllners Chorschule. Drei ihrer Motetten scheinen sich sogar direkt dem Studium des Wüllner-Buches zu verdanken. So finden sich mit O bone Jesu, miserere nobis und O crux ave zwei Motetten von Palestrina und mit Adoramus te eine Motette von Francesco Roselli in Wüllners Beispielsammlung, die Martha von Castelberg zu ihren gleichnamigen Kompositionen (siehe MvC 11.1, 12.1 und 12.5) angeregt haben mögen. Für O bone Jesu, o piissime Jesu (MvC 12.10) lässt sich ebenfalls ein historisches Vorbild ausmachen, das sich Martha von Castelberg durch die Lektüre vermittelte. Bis in musikalische Details ergeben sich Korrespondenzen zu einer Motette von Paolo Agostini (1583–1629) auf denselben Text, die Erwin Lendvai im ersten Band («Lateinische Kirchenchöre») seiner Sammlung Der polyphone Männerchor (Berlin 1928) veröffentlichte. Dass Martha von Castelberg zu Studienzwecken auch Abschriften historischer Vorbilder vornahm, ist durch die im Nachlass befindliche eigenhändige Kopie der Motette O bone Jesu von Marc’Antonio Ingegneri (damals irrtümlich Palestrina zugeschrieben) nachweisbar.

Wie ihr eigenhändiges Werkverzeichnis auflistet, schrieb Martha von Castelberg ihre erste Motette im Alter «Jahre 28», also 1919. Weitere Motetten sind in dem nur bis 1943 geführten Verzeichnis nicht genannt. In das Jahr 1919 fiel auch ein Kuraufenthalt in Disentis, bei dem sie im dortigen Benediktinerkloster verkehrte und Pater Maurus Carnot vorgestellt wurde, mit dem sich eine langjährige Freundschaft entwickelte. Es lässt sich denken, dass das klösterliche Ambiente sie zur Komposition von Motett (MvC 12.2) anregte. Denselben Text, Adoro te devote von Thomas von Aquin, vertonte sie in einer weiteren Motette (MvC 12.3), die 1955 anlässlich der Orgelweihe in der Klosterkirche zu Disentis vom Knabenchor der Klosterschule unter der Leitung von Pater Ansgar Müller uraufgeführt wurde.

1941 liess Walther Reinhart Jesu dulcis memoria (MvC 8.1a) in seinem Zürcher Chor singen. In seinem Nachlass befindet sich ferner ein Exemplar von O crux ave. Bei Reinhart, dem Mitbegründer der Internationalen Bachgesellschaft, hatte Martha von Castelberg zuvor Theorieunterricht erhalten. Im Nachlass der Komponistin ist entsprechendes Probenmaterial zu O crux ave überliefert. Ohnehin gibt es zu einer ganzen Reihe von Motetten sowohl handschriftlich als auch fotomechanisch erstellte Vervielfältigungsexemplare, die teilweise auch mit Interpretationseintragungen versehen sind, was zeigt, dass aus ihnen gesungen wurde. Öffentliche Konzerte sind zu Lebzeiten jedoch nicht nachweisbar. Spuren führen aber sowohl ins private Umfeld als auch in die Kirche St. Martin. Es war die befreundete Sängerin Alice Hoigné, die Walther Reinhart auf die Motetten aufmerksam machte, und so ist zu vermuten, dass zunächst im privaten Rahmen eine Erprobung stattgefunden hat. In St. Martin waren damals mit Pfarrer Eugen Egloff und Vikar Johannes Birkner reformorientierte Theologen im Amt, die auch einer Modernisierung der Kirchenmusik gegenüber aufgeschlossen waren. Insofern hätte es hier einen Anknüpfungspunkt gegeben. Die naheliegende Annahme, dass die Motetten dort aufgeführt wurden, konnte aber nicht belegt werden.

Für den praktischen Gebrauch im Rahmen der Messe waren die Motetten ohnehin kaum geeignet. Gleichwohl verwenden sie zu einem nicht unerheblichen Teil liturgische Texte, zumal für hohe Feiertage wie Pfingsten (Veni, Sancte Spiritus) und Fronleichnam (Bone pastor). Während die Motetten auf Stundengebete (Salve Regina, Adoro te devote) sich noch problemlos in den gottesdienstlichen Rahmen von Andachten hätten einpassen lassen, scheinen die Motetten auf apokryphe Texte eher als Aufführungsmusik gedacht gewesen zu sein. Drei dieser Motetten heben sich durch die Verwendung der deutschen statt der lateinischen Sprache ab. Es handelt sich jeweils um Texte, die nicht römisch-katholischen, sondern ostkirchlichen Ursprungs sind. Vermutlich hat die Komponistin sie wegen ihrer allgemein- religiösen Aussage ausgewählt (Gebet, Ehre sei Dir, Christus und Herr, erbarme Dich).

1953 wurde bei der Edition Jans in Luzern eine kleine Auswahl der Motetten Martha von Castelbergs (Veni sanctificator, Salve Regina, O bone Jesu, Adoramus te) gedruckt, obwohl der Cheflektor Bedenken hatte, da «der Chorsatz als schwer bis sehr schwer beurteilt [wird] für die Verhältnisse bei den schweizerischen Kirchenchören: Modulationen und Tonschritte werden selbst für gute Chöre als zu schwer bezeichnet». Dennoch entschied sich der Nachfolgeverlag Edition Cron 1960 für eine unveränderte Neuauflage, man billigte den Motetten also Potenzial zu.

Bis auf eine Schallplatteneinspielung einiger Motetten 1968 bei Phonag in Winterthur durch den Kammerchor Zürich unter der Leitung von Johannes Fuchs ist eine weitergehende Rezeption zu Lebzeiten der Komponistin nicht nachweisbar. So kommt der vorliegenden Edition die Aufgabe zu, diese besonderen und lohnenden Werke für die Chorpraxis bereitzustellen. Da von Einzelfällen abgesehen die Motetten nicht datierbar sind, und auch eine Sortierung nach der Provenienz der vertonten Texte nicht konsistent möglich war, erfolgt die Anordnung der Motetten in alphabetischer Reihenfolge. Über den liturgischen Kontext informiert der Kommentar.

Knud Breyer (Berlin), im Mai 2022

Knud Breyer studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Neuere Deutsche Philologie an der Technischen Universität Berlin und promovierte dort mit einer Arbeit über das späte Klavierwerk von Johannes Brahms. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hanns Eisler Gesamtausgabe (Akademie der Künste, Berlin) und der Max Reger Werkausgabe (Max-Reger-Institut/Elsa-Reger- Stiftung, Karlsruhe). Zudem war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Erich Schmid Edition an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) beschäftigt. Daneben ist er freiberuflich als Editor und Autor für verschiedene Verlage tätig.

Gastbeitrag von Martin Hobi: Der Katholizismus reformiert sich

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