Geistliche Lieder
Vorwort zu Band 2
Das geistliche Lied für Sologesang und Begleitung durch ein Tasteninstrument gehört zu den wichtigsten Werkteilen im Œuvre Martha von Castelbergs. Im Unterschied zum Pendant des weltlichen Lieds für Sologesang und Klavier (→ MvC-Edition Band 1 Weltliche Lieder), das zu Lebzeiten unpubliziert blieb, veröffentlichte die Komponistin 1947 bei Hug & Co. Musikverlage in Zürich eine Auswahlsammlung von Sieben geistlichen Liedern für eine Singstimme und Klavier. Abgesehen von einigen wenigen Motetten, die 1953 bei der Edition Jans in Luzern gedruckt wurden, handelt es sich hierbei um die einzige Notenpublikation, die zu Lebzeiten der Komponistin herausgebracht wurde. Martha von Castelberg hatte gemeinsam mit ihrem damals zwanzigjährigen Sohn Guido persönlich beim Verlag vorgesprochen. Dass der renommierte und nicht auf geistliche Musik ausgerichtete Verlag das Werk in sein Programm aufnahm, zeigt, dass man dort Potenzial für die Lieder sah. Noch Jahre nach der Erstveröffentlichung schaltete der Hug-Verlag eine Anzeige im Bündner Tagblatt, in der auf den praktischen Nutzen für die moderne Kirchenmusik verwiesen wird: «Diese Kompositionen kommen einem sich immer mehr einstellenden Bedürfnis nach geeigneten Liedern für Solo-Gesang in der Kirche in hervorragender Weise entgegen.»
In den Sieben geistlichen Liedern hat Martha von Castelberg vor allem in den 1940er Jahren komponierte Lieder zusammengestellt. Lediglich eines der Lieder entstand früher. Gebet (MvC 3.6), nach einem Gedicht von Emil Schibli, komponierte sie laut ihrem eigenhändigen Werkverzeichnis bereits im Alter von 25 Jahren, also 1917.
Die Lieder spiegeln nicht nur den für die Komponistin damals aktuellen Stand der musikalischen Realisation geistlicher Sololieder wider, ihre herausgehobene Bedeutung erlangen sie auch dadurch, dass neben liturgischen Überlieferungstexten (Ave Maria, Ave maris stella) vor allem anspruchsvolle religiöse Dichtungen sowohl von weltlichen Autoren (Emil Schibli) als auch von Heiligen (Niklaus von Flüe, Bernhard von Clairvaux) und kirchlichen Würdenträgern (Papst Innozenz III.) als Textgrundlage verwendet werden. Eine Sonderstellung scheint Requiem einzunehmen, da die mottohafte Vertonung des Beginns der Totenmesse biografisch durch den Tod der Schwester Beatrix 1943 motiviert gewesen sein könnte. Mit den Sieben geistlichen Liedern traf Martha von Castelberg einerseits eine repräsentative Auswahl aus ihrem geistlichen Liedschaffen, andererseits kommt ihnen auch eine Sonderrolle zu, da sie wie die weltlichen Lieder mit Klavierbegleitung gesungen werden sollen, obwohl dies ursprünglich von der Komponistin nicht so vorgesehen war.
Diese Wahl des Klaviers als Begleitinstrument scheint ein Zugeständnis an den Verlag zum Zwecke der besseren Verbreitung jenseits eines explizit kirchlichen Kontextes gewesen zu sein. In der Regel schrieb Martha von Castelberg, wenn sie nicht gar auf eine Festlegung gänzlich verzichtete, die Orgel oder das Harmonium vor. Das Harmonium bzw. ein Orgelpositiv war für Andachtssituationen im kleineren Rahmen ein übliches Instrument. Zudem gab es in der Zürcher Kirche St. Martin, in der Martha von Castelberg gemeindlich engagiert war, erst ab 1942 eine Orgel. Auch in musikaffinen Haushalten der Oberschicht waren mitunter Hausorgeln verbreitet, so in der Villa Bleuler, dem Anwesen der mit Martha von Castelberg befreundeten Familie Abegg-Stockar.
Zwar schrieb Martha von Castelberg ihre Lieder für den solistischen Vortrag, sie wären aber überwiegend auch für den Gemeindegesang tauglich. Allerdings bemängelte Martha von Castelbergs damals sechzigjährige Bekannte Anni Abegg-Stockar, dass sie die hoch gesetzten Lieder (das sind in den Sieben geistlichen Liedern insbesondere das Schibli-Gebet und Ave maris stella) altersbedingt nicht mehr singen könne. Von zahlreichen Partiturhandschriften hat Martha von Castelberg Vervielfältigungen anfertigen lassen, die auf eine chorische Ausführung als Alternative schliessen lassen. Dass aus diesen Fotokopien gesungen wurde, ergibt sich aus Interpretationseintragungen. Martha von Castelberg gehörte in Zürich zu dem reformorientierten liturgischen Zirkel um den damaligen Vikar an St. Martin, Johannes Birkner (1923–1994), sodass die Lieder möglicherweise dezidiert für diesen Rahmen entstanden.
Zunächst entwickelte sich bei Martha von Castelberg das geistliche Lied parallel zu den weltlichen Liedern. Ihr erstes geistliches Lied, das Ave Maria in A-Dur (MvC 3.10) von 1912, entstand im selben Jahr wie das erste weltliche Lied Alpen-Enziane (MvC 5.2; → MvC- Edition Band 1). Die meisten geistlichen Lieder komponierte Martha von Castelberg aber erst in den 1940er und 1950er Jahren. Sie zeigen eine belesene, theologisch gebildete und reflektierte Komponistin, die in diesen Liedern ein ganz intimes Glaubensbekenntnis offenbart (→ Gastbeitrag von Wolfgang W. Müller). Entsprechend souverän sind die Textauswahl und der Umgang mit den Textvorlagen. Ein bedeutender Teil der Lieder ist nicht in der Liturgiesprache Latein gehalten, sondern in der Alltagssprache Deutsch, also in einer Sprache, in der auch kirchliche Laien ihre individuellen Gedanken und Gefühle adäquat und differenziert widergespiegelt finden können. So werden die Lieder zur unmittelbaren Ansprache an eine reale oder imaginierte Gemeinde. Einige der Lieder rühren bewusst an die Grundschichten der menschlichen Existenz, so zum Beispiel die Vertonung eines Textes des heiligen Ambrosius von Mailand: Erkenne dich, Mensch (MvC 1.5). Ausnahmsweise verwendete Martha von Castelberg auch Italienisch, so bei Il Signore ti guardi (MvC 2.6). 1960 hatte sie Assisi besucht und ihre Reiseeindrücke in einem Tagebuch festgehalten. Im Nachlass befindet sich eine kleine Heiligen-Bildkarte, auf deren Rückseite der Text abgedruckt ist. Es handelt sich um einen der berühmtesten und gesichert authentischen Texte des heiligen Franz von Assisi.
Martha von Castelberg vertonte auch weitere literarisch bedeutende religiöse Texte namhafter Autoren von den Kirchenvätern bis zur Gegenwart: Ambrosius von Mailand, Ignatius von Loyola sowie eine Übertragung des 25. Psalms (Zu Dir heb ich meine Seele; MvC 1.2) durch den jüdischen Philosophen Martin Buber. Vor allem aber nahm Martha von Castelberg selbst Textkompilationen von Psalmen und Bibelstellen vor, stellte also eigene religiöse Bezüge her. Wie sorgfältig und überlegt sie dabei vorgegangen ist, bezeugen zahlreiche eigenhändige Textabschriften. In Celebrabo te Domine (MvC 2.4) beispielsweise kompilierte Martha von Castelberg verschiedene Textstellen aus dem 137. Psalm, und in Fürchte dich nicht (MvC 2.5) unternahm sie eine Zusammenstellung von Versen aus Jesaja 43 und 51.
Die erste nachweisbare öffentliche Aufführung geistlicher Lieder Martha von Castelbergs fand an Weihnachten 1940 bei einer Konzertveranstaltung des Zürcher Lyceum-Clubs statt. Alice Hoigné, eine Freundin der Komponistin, die in der Kirche St. Martin auch für das Ressort Musik zuständig war, sang neben dem Krippenlied auch eines der Ave Maria und Mein Herr und mein Gott (entspricht Gebet; MvC 3.5). Ob sie dabei das Krippenlied in der Fassung mit Tasteninstrument oder die Ensemblefassung (→ MvC-Edition Band 3) gab, ist nicht auszumachen. Anlässlich der Orgelweihe in der Dreifaltigkeitskirche in Zollikon führte Peter Willi, ein mit der Familie von Castelberg verwandtschaftlich verbundener Tenor, 1941 ebenfalls Gebet nach einem Text von Niklaus von Flüe (Mein Herr und mein Gott) auf, das dann später auch in die Sieben geistlichen Lieder einging. Mit Sicherheit wurde er dem Anlass entsprechend von der neuen Orgel begleitet. Am 25. Oktober 1942 wiederholte Willi das Lied bei der Orgelweihe in St. Martin. Er sang auch am 1. November 1945 Requiem anlässlich einer Gedenkveranstaltung für die verstorbenen Mitglieder des Club Felix. Dieser katholische Männerbund wurde von ihm und Anton Higi, dem Architekten von St. Martin, gegründet. Auch dieses Lied reihte sich dann in die Sieben geistlichen Lieder ein. Peter Willi scheint die Lieder häufiger gesungen zu haben, als dies dokumentiert ist. Im Juni 1946 schrieb er der Komponistin: «Ich [möchte] Dir danken für die schönen Kirchenlieder, die Du komponiert hast und mit denen ich schon so oft den Gottesdienst in Zürich, Arosa und Zollikon verschönern durfte.»
Natürlich sorgte die Drucklegung der Sieben geistlichen Lieder für die gewünschte Aufmerksamkeit und ermöglichte überhaupt eine über den privaten Kreis hinausgehende Verbreitung. Martha von Castelberg verschickte Druckexemplare an Persönlichkeiten, die sie kannte und die zugleich über eine für die praktische Rezeption nützliche institutionelle Anbindung verfügten. Die befreundete Opernsängerin Olga Kalliwoda, die in Zürich möglicherweise im Hause Abegg-Stockar Mein Herr und mein Gott (entspricht Gebet; MvC 3.5) kennengelernt hatte, war Gesangslehrerin in Pésc (Ungarn), auch die Gesangsprofessorinnen Ria Ginster und Elisabeth Mattmann wollten in ihren Gesangsklassen an den Konservatorien in Zürich und Bern die Lieder einstudieren. Am 1. Juli 1953 bedankte sich Lisanne Niquille, eine Studentin von Ria Ginster, brieflich bei Martha von Castelberg für den Besuch ihres Examenskonzerts, «das gemütliche Beisammensein nach dem Konzert, [...] Ihre lieben, anerkennenden Worte [und] die herrlichen Blumen [...]». Es ist naheliegend, dass Lisanne bei diesem Anlass auch Lieder von Martha von Castelberg gesungen haben könnte. Es kam auch zu einem Austausch mit deren Mutter Annelis Niquille-Boepple. Zwei Partiturkopien von Natus est vobis (MvC 1.1b) tragen ihren Besitzvermerk. Es existieren zwei Schallplatten mit Privataufnahmen. Auf einer singt Annelis Niquille-Boepple Inclina Domine (MvC 1.3) und Quousque Domine (MvC 2.3). Im Nachlass Martha von Castelbergs gibt es eine Postkarte von Annelis Niquille-Boepple, in der sie sich für eine Sendung bedankt und anfügt «mich interessiert alles!»
Pater Friedrich Ziegler vom Kloster Einsiedeln äusserte gegenüber der Komponistin die Hoffnung, «dann und wann einmal eine von Ihren schönen Vertonungen von einer unserer jungen Stimmen gut vorgetragen zu hören». Und Cornelio Cairati von der Zürcher Accademia del Canto versprach: «[...] Meinen Schülern werde ich sie gerne empfehlen.»
In den früheren 1950er Jahren wurden in der Kirche St. Martin Zürich jeweils in der Betsingmesse um zehn Uhr regelmässig geistliche Lieder von Martha von Castelberg aufgeführt. Es ist gut möglich, dass einige der Lieder auch zu diesen Anlässen entstanden.
«2 geistliche Arien von Martha von Castelberg» wurden auch anlässlich eines Kirchenkonzerts am 24. Juli bei der überkonfessionellen Tagung «Die Frau in Kirche und Welt» im Rahmen der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) aufgeführt, die zwischen Juli und September 1958 in Zürich stattfand. Die Tagung stand unter dem Motto «Lebenskreis der Frau in Familie, Beruf und Staat». Sie wurde vom Bund Schweizerischer Frauenvereine organisiert, es nahmen an die hundert Frauenvereine und Frauenzentralen daran teil. Der Beitrag zeigt, dass Martha von Castelberg zumindest im Bereich der Frauenvereine als Komponistin wahrgenommen und anerkannt wurde.
Die Ausgabe Sieben geistliche Lieder wurde auch in der Presse zur Kenntnis genommen, wenngleich Peter Willi hier nachhelfen musste. Am 2. Dezember 1947 erschien in der Luzerner Zeitung Vaterland seine Kurzrezension: «Diese Neuerscheinung kommt einem sich immer mehr einstellenden Bedürfnis nach geeigneten Liedern für Sologesang in der Kirche in hervorragender Weise entgegen. In ihrer schlichten Art gehen die Gesänge wirklich zu Herzen und dienen so zur Erbauung der Zuhörer.» Die Nationalzeitung betonte in einer Rezension vom 2. Dezember 1947 ihren ästhetischen Wert: «Obwohl jeder der sieben Gesänge als eigenständiges musikalisches Kunstwerk zu werten ist, besteht einer ihrer wesentlichen Vorzüge in der Tatsache, dass sie in ihrer Gesamtheit einen vollständigen Zyklus religiösen Lebens formen: von der täglichen Gebetsmeditation bis zum feierlichen Totengedenken im ‹Requiem›. Ohne höhere musikalische Prätentionen zu erheben, gehen ihre Melodien in ihrer schlichten Diktion wirklich zu Herzen und bilden mit der bewusst einfachen, satztechnisch absolut untadeligen Klavierbegleitung kostbare, durch tiefe Frömmigkeit und echte Musikalität inspirierte Miniaturen.»
1968 spielte Elsa Cavelti, die mit Martha von Castelberg befreundete international gefragte Schweizer Sopranistin, eine Schallplatte mit Liedern der Komponistin bei Phonag ein. Darunter waren auch einige der geistlichen Lieder, sodass nun auch eine weitere Rezeptionsmöglichkeit gegeben war.
Knud Breyer (Berlin), September 2023