Eine Messe-Vertonung als katholisches Glaubensbekenntnis

Dass Martha von Castelberg 1948, also im Alter von 56 Jahren, auch eine Messe komponierte, hängt wesentlich mit ihrer katholisch orientierten Biografie zusammen. Aus dem zwinglianischen Zürich stammend, mit einem katholischen Bündner verheiratet, suchte und fand sie immer wieder religiöse und zweifelsohne auch musikalische Impulse in den Benediktinerklöstern Disentis und Einsiedeln. So ist es naheliegend, ihr künstlerisches Unikat, die Komposition einer grossen Ordinariums-Vertonung für Soli, Chor und Orchester, in diesem Umfeld zu verorten. Bis dahin hatte sich die Autodidaktin Martha von Castelberg, mit Ausnahme einiger Motette, vor allem dem geistlichen und weltlichen Klavierlied gewidmet und erst im selben Jahr wie die Messe mit einer Klaviersonate auch ihre pianistische Kompetenz dokumentiert.

Im Rahmen der katholischen Kirchenmusik stellt Ende der 1940er Jahre nach wie vor die Messe die zentrale liturgische Musikgattung dar. Seit der Kanonisierung dieser Form im Konzil von Trient (1545–1563) hat sie sich trotz einiger Krisenphasen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) durchgesetzt und im späten 19. Jahrhundert im sogenannten Cäcilianismus ihre grösste Verbreitung gefunden. Auch in der schweizerischen Kirchenmusik, insbesondere in der Diaspora, wirkte dieser cäcilianische Geist bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nach, wenn auch viele Komponisten hier bemüht waren, die dogmatisch-stilistische Verengung dieser kirchenmusikalischen Reformbewegung zu durchbrechen. Prägende Beispiele dieser Öffnung sind etwa die Missa pro Patria (1941) und die Bruderklausenmesse des Luzerner Komponisten und Gründers der Schweizerischen katholischen Kirchenmusikschule Johann Baptist Hilber (1891–1973), die Messen des damaligen Solothurner Domkapellmeisters Casimir Meister (1869–1941) und nicht zuletzt die liturgischen Beiträge des renommierten Sinfonikers Hans Huber (1852–1921).

Aber auch in den erwähnten Benediktinerklöstern Disentis und Einsiedeln wirkten profilierte Musiker, die mit Messe-Kompositionen auf sich aufmerksam machten. In Disentis war es Pater Leo Kunz (1871–1935), der über 40 Jahre die «Seele des Musiklebens» im Kloster Disentis war. Seine Ausbildung erhielt er an der Stiftsschule Einsiedeln von Pater Basil Breitenbach (1855–1920). Nach seiner Priesterweihe 1898 wurde er Organist und Kapellmeister in Disentis. In dieser Funktion entstanden unter anderem auch vier Messen für Chor und Orgel, die «Spuren von Bruckner’scher Grandiosität, Bruckner’scher Frömmigkeit und Bruckner’schem Pathos» aufweisen. Zweifelsohne hatte Martha von Castelberg bei Besuchen in Disentis einige dieser Messen im Gottesdienst erlebt, gehörten sie doch zum festen Repertoire des dortigen Stiftschores.

In Einsiedeln wirkte in derselben Zeit der kompositorisch bedeutendere Pater Otto Rehm (1887–1971). Er stammte aus dem süddeutschen Raum und erhielt seine musikalische Grundausbildung wie sein älterer Mitstudent Leo Kunz von Pater Basil Breitenbach. Dank seiner Begabung konnte er später an der damaligen Münchner Tonkunst-Akademie studieren, wo der Komponist Joseph Haas (1879–1960) sein prägendster Lehrer war; er blieb mit ihm zeitlebens in freundschaftlicher Verbindung. Mit Blick auf die mittelbare musikalische Beeinflussung Martha von Castelbergs – wie erwähnt war Einsiedeln für sie ein geistlicher Zufluchtsort – ist die Bedeutung Joseph Haas’ nicht zu unterschätzen. Haas gründet stilistisch bei Max Reger, dessen polyphone, harmonisch reiche Tonsprache er in eigenständiger Weise weiterführte. Zahlreiche Messekompositionen (auch in deutscher Sprache) von ihm wurden bis in die jüngere Vergangenheit immer wieder aufgeführt.

Die Messe (1948) Martha von Castelbergs steht also in diesem Umfeld und es ist historisch wie stilistisch aufschlussreich, ihr Werk unter diesen Perspektiven zu betrachten.

Die Tonsprache, derer sich Martha von Castelberg bedient, ist in der katholischen Gebrauchsmusik dieser Zeit der Normalfall: Die cäcilianische harmonische Zurückhaltung – Palestrina-Repristination war ja das Ideal dieser Bewegung – hatte einer nachromantischen Chromatik Platz gemacht, die vor allem als Mittel der Expressivität und Textdeutung (Crucifixus) eingesetzt wurde. Lineare und kontrapunktische Elemente (dogmatische Textstellen z. B. im Credo) wechseln mit liedhaften Passagen ab (Et incarnatus est, Benedictus), Klangballungen (Sanctus) sollen die liturgische Feierlichkeit erhöhen. Doch im Gegensatz etwa zu den grossen Messen Bruckners, Liszts, Dvořáks oder Gounods entfällt in dieser «Gebrauchsmusik» der sinfonische Gestus, der die vielschichtigen textlichen Voraussetzungen (Gloria, Credo) unter einen Bogen bringt. Auf den Punkt gebracht: Nicht musikalische Geschlossenheit ist das Ziel, sondern die Verdeutlichung des liturgischen Gehaltes. Und insofern ist nachcäcilianische Messekomposition immer unmittelbar mit persönlichem Bekenntnis verbunden. Das kann auch ausserliturgisch verankert sein, etwa in der bis heute immer wieder aufgeführten Missa pro Patria von J. B. Hilber, wo das «Eidgenössische» dominiert. Das kann einer bestimmten Tradition verpflichtet sein, etwa in den Gregorianik-Zitaten bei Pater Otto Rehm oder im Volkstümlichen wie bei Abbé Bovet, es kann aber auch die innere religiöse Welt des Komponisten bzw. der Komponistin reflektieren, die biografischen Ursprungs ist.

Martha von Castelberg hatte schon in jungen Jahren kirchenmusikalische Erlebnisse. Vielleicht schon in den Internatsjahren 1908/1909 in dem von Nonnen geführten katholischen «Institut des Dames de Saint-Augustin» in Schaerbeek (Belgien), wo vermutlich auch Messen des legendären belgischen Priestermusikers Julius van Nuffel (1883–1953) erklangen. Sicherlich aber erlebte sie Kirchenmusik anlässlich ihrer Erstkommunion im Kloster Einsiedeln und nicht zuletzt im Rahmen des erstarkenden Zürcher Katholizismus, wo seit 1874 in St. Peter und Paul, dann besonders auch ab 1898 in der Liebfrauenkirche, später in St. Joseph (1916) und in Herz-Jesu Wiedikon (1921) kirchenmusikalisch reiche Gottesdienste florierten. Musik war nämlich seit der Gegenreformation die wirksamste Profilierung in katholischen Diasporagemeinden.

St. Martin schliesslich, ursprünglich eine Tochterpfarrei von Liebfrauen Zürich, 1939 primär für das katholische Dienstpersonal in den Villen am Zürichberg gebaut, wurde für die Familie von Castelberg bald zur geistigen Heimat, wo verschiedene Liedgesänge, nicht aber die Messe der Komponistin zur liturgischen Aufführung gelangten.

Für diese Kirche war das Werk zu gross besetzt, nicht nur, was die chorischen Ansprüche betrifft, sondern auch hinsichtlich der Instrumentation für ein ausgewachsenes Orchester, wobei anzumerken ist, dass Messekompositionen mit Orchester nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt Ausnahmen darstellten und meist in einem bestimmten Kontext entstanden. Es wäre immerhin denkbar, dass der bestimmte Kontext in diesem Fall nicht nur die persönliche kompositorische Herausforderung, sondern auch eine musikalische Akzentuierung des Zürcher Katholizismus beinhaltete. Immerhin hat Martha von Castelberg die Messe dem damaligen Chordirektor der Liebfrauenkirche, Hermann Odermatt , zur Begutachtung vorgelegt, der allerdings Satztechnik und Instrumentation eher kritisch beurteilte.

Tatsächlich weist die Instrumentation dieser Messe gewisse Eigenheiten auf, insbesondere fehlt die bereits erwähnte sinfonische Verarbeitung, wie wir sie in den führenden Werken der Spät- und der Nachromantik kennen. Das wird besonders deutlich, wenn man den eigenhändigen Klavierauszug und das Fragment einer Orgelfassung (Kyrie und Sanctus) mitberücksichtigt: Die Streicher werden über weite Strecken colla voce eingesetzt, Holzbläser und Hörner dabei zur klanglichen Färbung oder zu Akzentsetzungen verwendet, die Blechbläser für Steigerungen und rhythmische Schärfung. Auffällig auch die doch eher kursorische Verwendung der Posaunen, die nur selten charakteristisch in Erscheinung treten. Ähnliches gilt für die Orgel, sie erklingt nur als akkordische Stütze zu Beginn des Gloria und quasi solistisch im Credo bei «cujus regni non erit finis», «in remissionem peccatorum», bei «mortuorum», im Sanctus beim «Hosanna» des Frauenchores und schliesslich im Agnus Dei bei «miserere nobis» – insofern eine gewisse Parallele zu Bruckners d-moll-Messe. Ganz selten treten einzelne Instrumente solistisch in Erscheinung, so etwa die Violine als Illustration des Engels im Gloria, die Flöte als Kontrapunkt zum solistischen «Gratias agimus tibi», die Oboe beim «Et incarnatus est» im Credo und die Klarinette im Agnus Dei.

Alois Koch 1945 in Luzern geboren. Parallel zur musikalischen Ausbildung absolvierte er das Studium der Musikwissenschaft in Zürich. Er erlangte staatliche Diplomabschlüsse als Organist und Dirigent. Alois Koch promovierte mit einer Dissertation über den Cäcilianismus und war international als Organist, Dirigent und Kirchenmusiker tätig. Seit 1993 ist er Titularprofessor der Universität Luzern, 2001 bis 2008 stand er als Rektor der Musikhochschule Luzern vor. Alois Koch hält Gastvorlesungen an verschiedenen Universitäten und Hochschulen und ist Verfasser zahlreicher Fachartikel und Referate zur Geistlichen Musik und zum Spannungsfeld Musik und Theologie. Buch- und CD-Produktionen ergänzen sein Schaffen.

Pater Otto Rehm von Mühlhausen am Klavier (undatiert). Bildarchiv Kloster Einsiedeln
Pater Otto Rehm mit Bernhardiner (undatiert). Bildarchiv Kloster Einsiedeln
Die alte Musikbibliothek (ca. 1968-1981). Bildarchiv Kloster Einsiedeln
Blick zum Hochaltar vom Dach der Gnadenkapelle (datiert 1940–1970). Bildarchiv Kloster Einsiedeln

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